Aufgewacht.

Es ist der 08.09.2017.

Ich habe gerade die Augen geöffnet aber hätte sie am liebsten gleich wieder geschlossen um erneut in einen tiefen Schlaf zu fallen.

Fehlanzeige – Ich schaffe es nicht.

In meinem Kopf haben sich innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde mehr als tausend Gedanken verbreitet, die sich bis in meine Zellen fressen und sie vergiften.

Erinnerungen, Gedanken über die Zukunft, die Vergangenheit, Sorgen, Angst und Ungewissheit quälen mich.

Mir geht es nicht gut, mein Körper wiegt mehr als das dreifache seiner Selbst und meine Muskeln sind zu Stein erstarrt und verkrampft.

Ich schaffe es nicht mich zu bewegen, warum sollte ich auch? Mein Leben, das Leben jedes Menschen ist nichts anderes als ein Trauerspiel, eine  ewige, aussichtslose Suche nach dem Glück und zu allem Überfluss noch frustrierend langweilig. So fühlt es sich an, obwohl ich alles habe um Glücklich zu sein.

Nichts davon interessiert mich, nichts weckt mehr meine Neugierde, alles wiederholt sich ständig. Selbst die simpelsten Kleinigkeiten, die normalerweise in einem Automatismus hätten ablaufen sollen, wie das morgendliche duschen, schminken, essen etc. kotzten mich nur noch an.

Es ist jeden Tag das selbe Spiel.

Wenn ich aus dem Fenster sehe bekomme ich schreckliche Angst vor dieser grausamen, gewalttätigen Welt.

Menschen verletzen sich ständig gegenseitig, emotional, wie auch physisch. Auch die Natur und alle anderen Lebewesen müssen unter dieser Gier, dieser endlosen Suche nach dem Glück des Menschen leiden. Wir sind Parasiten. Ich bin ein Parasit. Ich bekomme einen Ekel vor mir Selbst.

Das erste was ich hinbekomme ist aus Wut zu heulen, nur ganz wenig, nur ein paar Tränen rollen still und langsam über meine Schläfen in den Haaransatz.

Nicht einmal vernünftig heulen bekomme ich noch hin.

Ich bin erschöpft, emotionslos und kraftlos.

Motivation? Freude? Lachen? Liebe?

Diese Gefühle sind nur noch verschwommene Erinnerungen. Also bleibe ich bewegungslos im Bett liegen.

Stunden vergehen.

Durch das Schlafzimmerfenster glotzen mich kahle, dünne Äste eines Baumes an. Der Himmel ist bewölkt und grau. 
Gestern ging es mir noch etwas besser.

Heute ist es, als ob die Erinnerungen meines Lebens nur eine Erzählung aus dem Leben einer anderen Person oder ein Ausschnitt aus einem Film wären. Völlig Fremd, als hätte ich nie daran teilgenommen.

Ich bekomme Panik.

Die Panik fühlt sich an wie der Tod, als ginge es jeden Moment zu Ende.

Wie bei einem Herzinfarkt legt sich ein tonnenschwerer imaginärer Amboss auf meine Brust. Er lässt erst mein Herz wie verrückt pochen. Danach gefriert das Blut im ganzen Körper und zum Schluss läuft alles in Zeitlupe. Das Blut läuft nur noch erschwert durch meinen Körper. Mein Herz ist kaum noch spürbar.

Aber der Tod tritt nicht ein, der Amboss bleibt da wo er ist und sorgt zusätzlich für ein Gefühl der absoluten Hilflosigkeit, dauerhaft.

Was ist hier los? Panikattacken? Depressionen? Ich?

Ich war immer sehr stark, humorvoll, schlagfertig. Es kann doch echt nicht sein das MIR so etwas passiert. Die Panik wird noch größer. 
Angst überwältigt mich.

Ich heule – nicht körperlich – dafür ist keine Energie oder Motivation mehr da.

Ich heule innerlich oder beobachte mich selber beim innerlichen heulen. Keine Ahnung was hier los ist.

Als die Panik nach ein paar Stunden nicht vergeht, denke ich : Hilfe…

Niemand da – ich bin Single, wohne alleine, hab keine Haustiere.

Wenn ich jetzt weiter hier liege sehe ich schwarz.

Irgendetwas muss passieren, jemand muss mir helfen sonst geschieht etwas ganz schlimmes mit mir, da bin ich sicher.

Hilfe, Hilfe, Hilfe….

Das ist alles woran ich denken kann. Völlig bewegungslos.

Weitere Stunden verstreichen.

Nach mehreren Angstwellen und Panikattacken schaffe ich es irgendwie mein Smartphone in die Finger zu bekommen. (Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern wie mir das gelungen ist). Ich schreibe eine Nachricht an meine Schwester.

Der Inhalt lautet nur:       Hilfe

Meine Schwester ist sehr emphatisch und sensibel und wohnt praktischerweise direkt nebenan.
Sie besitzt einen Haustürschlüssel meiner Wohnung. 

Sie kennt mich sehr gut und kann an meinem Gesichtsausdruck erkennen wie es in mir aussieht.

Auf Sie ist Verlass. Geistesgegenwärtig stürzt Sie gleich rein und sieht mich an.

Sie weiß sofort das etwas sehr übles die Räume erfüllt. Also legt sie sich zu mir ins Bett und fängt gleich mit der Arbeit an.

„Was ist denn mit dir? Du hast so ein schönes Leben, so gute Freunde und eine tolle Familie, dir braucht es nicht schlecht gehen.”

„Auf der Arbeit läuft doch auch alles gut oder?“

„hmmhhmmm“

„Na siehste! Und gestern war doch auch ein super schöner Tag, jeder mag dich.“

Keine Regung meinerseits.

„Was hast du denn? Ist irgendetwas passiert?“

Ich bemerke, dass ich ihr antworten will, doch ich bekomme nichts anderes hin, als ein angedeutetes Kopfschütteln.

„Jeder hat mal ein scheiß Tag. Morgen sieht die Welt wieder ganz anders aus.”

„Jetzt lach doch mal.”

Keine Regung meinerseits.

Ich spüre wie auch Sie langsam panisch wird.

Meine Schwester kennt mich in und auswendig und so hat sie mich noch nie erlebt. Sie hat Angst um mich, dass sehe ich ihr an.

Das macht mir noch mehr Angst und ich gerate wieder völlig unbemerkt – weil ich regungslos bin – in die nächste Panikattacke.

Sie macht blöde, panische Witze und versucht mich zu schütteln und zum lachen zu bringen, doch ihre ängstlichen Augen sprechen eine ganz andere Sprache als ihr höfliches, jedoch gespieltes Lächeln.

Kurz denke ich – Scheiße, hättest du sie mal nicht mit rein gezogen, dann ginge es ihr jetzt nicht auch schlecht. Sie macht sich große Sorgen.

„Hey! was ist denn????“

Ihr zuliebe ziehe ich mir irgendeine, nicht vorhandene Energie zum sprechen aus dem Arsch.

„Ich weiß es nicht“

Jetzt versteht Sie, dass es ernst ist.

Sie wird wieder ruhiger.

Als ich das bemerke werde ich auch etwas ruhiger und Sage:

„Nichts macht noch Sinn, alles grau, alles schlecht“

„Gar nicht…… guck mal…..“

(Sie macht eine kurze Pause, wahrscheinlich weil ihr gerade nichts brauchbares einfällt)

„Schau mal was du in deinem Leben alles schon erreicht hast. Das ist bestimmt nur so ne Winterdepression und wenn die Sonne scheint geht das wieder weg.“

Diesmal schaffe ich es den Kopf in Ihre Richtung zu drehen.

Mein Gesichtsausdruck muss wirklich erschreckend sein, weil sich gleich wieder Angst auf ihrem lächelnden Gesicht ausbreitet.

Ihr wird klar, dass mich diesmal keine Worte aufmuntern können.

Nun setzt sie zur zweiten Taktik über.

„Komm….raus aus dem Bett!

„Du musst dich bewegen, iss mal was, trink einen Tee, dann geht’s dir gleich besser.“

Ich glotze wiederholt völlig abwesend ins Leere. Es scheint so, als würde ich dieses Schauspiel aus einer anderen Perspektive betrachten. Mein Körper ist leer, seelenlos, mein Geist befindet sich nun komplett in einem dunklen Raum.

Es ist nicht das erste mal, dass ich mich in einer depressiven Phase befinde. In meiner Vergangenheit habe ich schon einige dunkle Zeiten mitmachen müssen, nur diesmal ist es schlimmer.

Meine Schwester sitzt mittlerweile auf dem Sofa links neben meinem Bett.

Sie sieht mich lange an, dann kommt Sie mit Tränen in den Augen ans Bett.

„Ich werde dich jetzt in den Arm nehmen“

Sie legt sich vollständig auf meinem leblosen Körper, Ihr Gesicht verschwindet rechts neben meinem Kopf im Kissen. Ihre Arme breiten sich aus und Ihre Hände schiebt Sie mit einem langsamen, dennoch bestimmenden Druck über meine schweren Schultern am Nacken zusammen.

Sie wärmt mein gefrorenes Blut mit Ihrem ganzen Körper. Das Gewicht tut gut, es lenkt vom Amboss ab.

Dann weint Sie.

Die Erschütterungen Ihres Atems wirken wie eine Reanimation.

Ich komme langsam zurück, von wo auch immer. Ich schaffe es meine Arme um Sie zu legen. Ich kralle mich im Strickpullover fest und fang bitterlich und laut an zu weinen. Wie ein Kind.

Die Hilflosigkeit bebt in jedem Atemzug.

Wir liegen eine Weile so, bis mein Geheule endlich durch Erschöpfung verebbt.

Mir geht es tatsächlich etwas besser.

Ich danke Ihr sehr dafür, ich hatte gar nicht bemerkt wie lang die letzte liebevolle Berührung zurück lag.

Jetzt weiß ich es – sehr lange….

Sie wusste es, Sie hat es geschafft, dass ich aufstehen kann und nimmt mich mit rüber in Ihre Wohnung.

Ich darf den Abend dann in liebevoller Dreisamkeit mit Ihr und Ihrem Lebensgefährten verbringen.

Ich bin irgendwie auf Ihre Couch gekommen, rollte mich oder wurde in eine Decke eingerollt und wir sehen einen Film.

Besser gesagt sehen Sie den Film, Ich bin einfach nur Dankbar für das wärmende, gemütliche Licht in dem Wohnzimmer und die liebevollen Worte die beide, in aufmunternder Absicht an mich richten.

Ich werde ganz ruhig und schwer.

Die Panik ist weg, die Angst auch.

Ich bin sehr froh, nicht allein sein zu müssen.

„Danke“ denke ich, sage aber nichts.

Spät am Abend stehe ich dann endlich auf um mich wieder in mein eigenes Bett zu legen, Körperhygiene muss ausbleiben, dafür habe ich immer noch keine Kraft. Meine Energie reicht gerade mal für den Heimweg.

Nun befinde ich mich wieder in der Waagerechten, in meinem Bett, mit dem gleichen dürren, kahlen Ästen vor dem Fenster.

Meine Gedanken kreisen wieder wie wild und machen mich wahnsinnig. Völlig Sinnfreie Gedanken über Dinge – die ich getan oder gesagt habe, was ich noch machen will, das ich nicht glücklich bin, warum ich nicht glücklich bin, wie ich es ändern kann und so weiter.
Die Gedanken sind mein Problem!

Ich versuche an Nichts zu denken, es klappt nicht.

Dunkelheit breitet sich aus. Aber ich bemerke, dass diesmal etwas anders ist.

Die Angst fehlt.

Vielleicht hat meine Schwester sie genommen oder sie wird gerade durch Gleichgültigkeit ersetzt.

„Ist mir jetzt egal, dann sterbe ich halt“ denke ich und schließe meine Augen.

Der Amboss legt sich erneut auf meine Brust nur diesmal lass ich alles aus Gleichgültigkeit oder aus Energielosigkeit geschehen. Ich wehre mich nicht mehr.

Ich werde wieder von dem Gedankenchaos komplett überrollt.

Es fühlt sich an als würden Millionen Stimmen in meinem Kopf sein, alle reden auf mich ein. Sie versuchen mir vorzuschreiben wie ich seien sollte, was ich denken sollte, wie ich hätte reagieren müssen, Erinnerungen, Pläne.
Ich kann nicht mehr!

Ich denke:

„Wenn jetzt ein Feuer im Haus ausbricht, ich würde liegen bleiben. Ich will nicht mehr.
Tötet mich Gedanken!

Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod. “

Ich schreie innerlich und wünsche mir nichts sehnlicher als Ruhe.

Ich merke, dass ich keine Kraft mehr für meinen Widerstand aufbringen kann. Mein Verstand hat aufgegeben.

Und plötzlich…

Stille.

Meine totale Aufmerksamkeit ist ganz plötzlich von dem wirren Gedankenchaos ins innere meines Körpers gelangt.

Wenn es keinen Ausweg mehr gibt, gibt es wohl nur noch den Weg nach Innen. Es fühlt sich an als hat mein Geist aus Selbstschutz einen neuen Weg gesucht.

Alles ist auf einmal still, als hätte sich die See nach einem starken Sturm endlich beruhigt und steht nun so still, dass kein Wellengang zu erkennen ist. Alles Spiegelglatt. Ein unendlich weiter, ruhiger Ozean aus Dunkelheit liegt vor mir. Ich werde hineingezogen.

Immer tiefer in einen schwarzen, leeren, zeitlosen Raum.

Ich habe das Gefühl meine Geschwindigkeit würde bei diesem Sturz ins Leere zunehmen. Nach einer Weile verlangsamt sich alles wieder. Es wird wärmer, fast gemütlich. Ich lasse einfach alles zu, weil ich mich wohl fühle. Der Sturz dauert ewig, es ist als ob er ein ganzes Leben dauert…..

Dann sehe ich ein Licht.

Es bewegt sich, ganz ruhig.
Wie Tentakeln einer Qualle wehen Lichtarme um den Kern herum.

Ich tauche ein, freiwillig, ohne Widerstand, ohne Angst.

Plötzlich passiert etwas Unerklärliches.

Ich bin im Licht und es erfüllt mich mit unendlicher Liebe. Nicht meinen Körper, diesen kann ich nun überhaupt nicht mehr spüren, sondern meinen Geist.

Ich bin nicht alleine hier, hier ist Alles. Und nun auch ich….. endlich…..

Ich spüre vollkommenen Frieden und Freude, meine Suche nach dem Glück hat ein Ende und alle meine Fragen sind beantwortet.

Plötzlich macht alles völlig Sinn. Das Leben, der Tod, jede Erfahrung die wir machen.  Als wäre mir der Sinn des Lebens endlich offenbart.

Hier will ich sein, immer.

Es gleicht einer Nah-Tod-Erfahrung. Ewigkeiten vergehen innerhalb von Sekunden und eine Sekunde dauert eine Ewigkeit.

Zeit existiert hier nicht.

Nur das Sein, also bin ich.

Ewig.

Zeitlos.

Ich öffne die Augen eines menschlichen Körpers.

Es ist mein Körper. Es ist der gleiche Raum in dem ich mich vor einer Ewigkeit zu Bett gelegt hatte.

Und trotzdem ist alles anders…..

Mein Name ist Marie. 
Ich wurde am 18.03.1988 geboren.

Neunundzwanzig Jahre, sechs Monate und dreizehn Tage nach meiner Geburt…

… bin ich zum Leben erwacht.